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Zwei Wahrheiten des Schreibens

Hardcover, Fadenheftung, 17 x 23 cm, 192 Seiten, 130 Abbildungen, 28,– Euro, ISBN 978-3-9824450-5-2

www.editionfroelich.de

Wir setzen Buchstaben nebeneinander aufs Papier, sammeln unsere Gedanken, versuchen zu verstehen, was mit uns geschieht, sortieren, ordnen, werten. Um uns unsrer selbst zu versichern, ringen wir nach Worten und deren Bedeutungen, formulieren Texte. Man nennt es Schreiben. Damit versuchen wir, dem Chaos des Lebens auf die Schliche zu kommen. Das ist die eine Wahrheit. 

Die andere ist, dass die Sprache unsere Gefühle noch lange nicht gefügig macht. Darum gilt es, die Ordnung der Texte zu durchbrechen und ihnen das Chaos zurückzugeben. Die Künstlerin und Schriftstellerin Ulrike Damm durchdringt ihre Texte ein zweites Mal, indem sie sie aus den Buchseiten heraustreten lässt und mit handgeschriebenen, raumgreifenden Zeichnungen neue Bildwahrheiten schafft. Edgar Kulp, Held ihres Romans Kulp und warum er zum Fall wurde, erblindet mit Mitte vierzig durch einen Autounfall. Dass er sich damit nicht abfinden kann, ist vorstellbar, entsprechend entfesselt sind die visuellen Übersetzungen seiner Verzweiflung. 

Mit der Verbindung zwischen verfassten und visuell gestalteten Texten gelingt es Ulrike Damm, zwei Wahrheiten ein und derselben Geschichte zu erzählen, die in diesem Buch ihren prachtvollen Ort finden. 

Sich blind schreiben

Wie sehr ich es hasste, mein Gesicht wie einen nackten Arsch in die Welt zu strecken und nichts zu sehen. In diesen Momenten fiel mir ein, dass ich blind war, ein Gedanke, der mir sonst stunden-, ja, tagelang nicht mehr in den Sinn kam.Ich wusste, dass ich angestarrt wurde und diese Starre übertrug sich auf mich. Es war das, was ich früher oft erlebt hatte, kurz nach meiner Erblindung: Die Leute hatten mich angesehen und ich war nicht in der Lage, die Zeichen zu deuten, die mich darüber aufgeklärt hätten, was diesen Glotzern beim Betrachten des blinden Mannes durch den Kopf gegangen war. Aber sie glotzten unbeirrt weiter, ich spürte es körperlich, ich spürte ihren Blick auf meiner Haut, als sei ich nackt.

> aus „Kulp und warum er zum Fall wurde“, Seite 233

Wut

Ein anderer Weg des Schreibens war die Zeilenschablone. Kulp schrieb durch die Löcher einer Metallplatte, damit er sich auf dem Papier nicht verlor.Das Schreiben strengte ihn an. Er schrieb durch Löcher, genau genommen durch Spalten, und trug in die Aussparungen der A4-großen Vorrichtung seine Zeilen ein, was mühsam war und unbequem. Innerhalb der länglich schmalen Fläche, die für eine der Zeilen gedacht war, klemmte er seine Buchstaben, stieß dabei an die Kanten und verlor die Orientierung innerhalb der schmalen Fensterchen.Wenn er absetzte und die andere Hand dem Weg des Bleistifts nicht gefolgt war, musste er ein Fensterchen tiefer weiterschreiben. Die Finger tasteten sich zum nächsten Loch ganz nach links und – wo war er, welches Wort hatte er zuletzt geschrieben, hatte er schon oder hatte er noch nicht? – abgerissen: Gedanke wie Schrift. Das neue Fenster begann mit einem neuen Gedanken und irgendwann riss auch der ab, wurde unterbrochen durch das zu frühe Anheben des Stifts oder auch durch einen neuen Gedanken, der raus wollte und erst durchs Gitter kriechen musste, um auf das Blatt zu kommen, das Kulp nicht sah.

So schrieb er seine Texte in eine erzwungene Ordnung, die ihm die Gedanken stutzte.
> aus „Kulp und warum er zum Fall wurde“, Seite 98