eXperimenta

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Magazin für Literatur und Kunst

Herausgegeben von Prof. Dr. Mario Andreotti und Rüdiger Heins.
Die vorliegende Juni-Ausgabe befasst sich mit dem Voynich-Manuskript,
einer mittelalterlichen Handschrift. Als Gegenentwurf werden Schriftbilder
von Ulrike Damm gezeigt, die visuelle Übersetzungen ihres Romans
Kulp und warum er zum Fall wurde sind.

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Titelbild eXperimenta 06 2021

Ein wütender, wilder Schrei

Ich schreibe meine Texte immer zwei Mal. Meinen Roman
Kulp und warum er zum Fall wurde
auch. Er ist in diesem März im österreichischen DRAVA Verlag erschienen.

Der Held ist der blinde Schriftsteller Edgar Kulp, der seine Texte
handschriftlich durch die Zeilenschablone schreibt. Diese unbequeme
Art des Schreibens beeinflusst nicht nur die Form, sondern auch die
Inhalte seiner Texte: „Die Herrschaft über seine Texte hatte ein Werkzeug,
genannt Schablone, übernommen.“

Die hier abgebildeten Zeichnungen zeigen zwei große Arbeiten mit
Bleistift. Sie sind eine visuelle Übersetzung des Textes und stellen den
verzweifelten Arbeitsprozess dar, bei dem der Schreibende mit jeder
Handbewegung im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen geführt wird.

Bei meinen Handschriften spreche ich von Übersetzungen, weil der Text
die Form vorgibt. Ich lese meine Texte neu und finde dafür eine
handschriftliche Form. Intuitiv. Da es meine eigenen Texte sind, muss
ich nicht nach Interpretationen suchen. Kopf und Hand arbeiten gut zusammen.

Beide Zeichnungen sind zwei dreizehn Meter lange Papierbahnen, die sich
aufeinander beziehen. Die eine zeigt das Hadern mit dem lästigen aber
notwendigen Werkzeug und den Versuch es zu umgehen: Ein wütender, wilder
Schrei, der zu keinem Text führt.

Das Gegenstück zeigt den Versuch, das Werkzeug zu beherrschen und
den Text in einzelne Zeilen zu bringen. Ich schreibe den Text durch
die Zeilenschablone. Zu Beginn Zeile für Zeile. Das Papier aber ist zu groß
und ich verliere mich auf der Fläche, schreibe den Text doppelt, dreifach,
zwanzigfach übereinander, streiche Textstellen aus, die Schablone verrutscht
und ich rücke auf der langen Papierbahn Stück für Stück weiter mit der
Schablone nach vorn, überschreibe vorherige Texte, es entsteht ein Netz
von Buchstaben, immer unkenntlicher, immer dunkler, weil sich mit jeder Schicht
der Schwarzanteil des Bleistifts erhöht, es wird unübersichtlicher, am Ende
chaotisch. Ich schreibe tatsächlich bis zum Ende den Text richtig ab, aber
irgendwann kann man keine Buchstaben, kaum noch Zeilen sehen, das Raster
der Schablone bleibt zwar als Struktur erkennbar, am Ende aber ist es, als
habe ich mich selbst in eine Blindheit hineingeschrieben.